Viele Gehörlose nutzen nach der schulischen Ausbildung nur noch selten Angebote der Weiter- und Erwachsenenbildung. Das liegt einerseits an einer mangelnden Förderung von Lese- und Schreibkompetenz in Gehörlosenschulen, zum anderen aber fehlt es häufig auch am Zugang, insbesondere zu Angeboten der Politischen Bildung. Genau hier setzt das europäische Projekt „Erwachsenenbildung in Gebärdensprachen“ an. Das Erasmus+-Projekt will bis 2022 ein innovatives Bildungskonzept für gehörlose Erwachsene schaffen.
Text: Manfred Kasper
„Wir haben uns zum Ziel gesetzt, ein innovatives Bildungskonzept für gehörlose Erwachsene zu erarbeiten, das in verschiedenen Ländern Mitteleuropas anwendbar ist“, betont Rudi Sailer, Vorsitzender des Netzwerkes der Gehörlosen-Stadtverbände e.V. Der Verein koordiniert das Projekt, an dem zudem der Gehörlosenverein Ingolstadt und Umgebung (GVIUS) sowie Partnerinstitutionen aus Österreich, der Slowakei und Belgien beteiligt sind.
„Gemeinsam wollen wir die Erwachsenenbildung in den Städten und Regionen der jeweiligen Länder stärken und den Lebensstandard für gehörlose Menschen verbessern“, ergänzt Sailer. Es gehe darum, die eigene Perspektive zu erweitern und das Gesamtangebot der Erwachsenenbildung in Gebärdensprachen zu verbessern. Ein elementares Thema sei dabei die Teilhabe. Gehörlose Menschen müssten lernen, wie man miteinander diskutiert und sich einbringen kann. Aktuell gebe es diesbezüglich noch große Hemmungen, gerade im Dialog mit hörenden Menschen.
Während entsprechende Angebote auf der Fachebene bereits relativ verbreitet seien, fehlten sie an der Basis oftmals noch. Daher richtet sich der Blick des Projekts vor allem auf Volkshochschulen und vergleichbare Bildungsanbieter. Ihnen sollen die Erfahrungen und Erkenntnisse lokaler Best Practices neue Impulse geben. Dazu Rudi Sailer: „Wir stärken das Angebot vor Ort, indem wir die Menschen stärken. Aus meiner Sicht kann die Erwachsenenbildung einen wichtigen Beitrag leisten, um die Partizipation am politischen Diskurs zu ermöglichen.“
Die europäische Dimension
Damit dies gelingt, bedarf es einer intensiven Netzwerkarbeit. Alexander Exner, Vorsitzender von GVIUS in Ingolstadt, glaubt, dass gerade die europäische Diskussion viele Lerneffekte mit sich bringt. Exner wörtlich: „Im Austausch mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen können wir sehr viel für uns selbst entdecken. Ich habe sowohl Neues dazugelernt als auch erkannt, dass wir zu bestimmten Themen Vorreiter sein können, beispielsweise wenn es um die Arbeit mit Migrant*innen geht, die bei uns in Ingolstadt eine bedeutende Rolle spielt.“
Die bisherigen Projektmeetings, die – abgesehen von der Auftaktveranstaltung Anfang 2020 – coronabedingt alle online stattfanden, hätten gezeigt, wie unterschiedlich die Situation in den beteiligten Ländern sei, berichtet Sailer. So fokussiere sich die Erwachsenenbildung in Belgien stark auf mediale Angebote wie Lernvideos. Das sei gerade in Pandemiezeiten sehr hilfreich gewesen und habe auch das eigene Verständnis von Erwachsenenbildung erweitert.
Während in Österreich ein großes Gefälle in der Angebotsstruktur zwischen Stadt und Land existiere, stehe die Erwachsenenbildung für Gehörlose in der Slowakei noch am Anfang. Die daraus resultierende Vielfalt der Perspektiven habe die Diskussion enorm bereichert.
Erste Erfolge sind bereits sichtbar
„Ich glaube, dass wir schon jetzt ein Bewusstsein für das Thema ,angestoßen’ haben, wenngleich noch eine Menge zu tun bleibt“, zieht Alexander Exner eine Zwischenbilanz. Er würde sich wünschen, dass die Betroffenen künftig mehr über ihre Erfahrungen berichten. Das Teilen von Best Practices könne dazu beitragen, das eigene Selbstvertrauen zu stärken und die Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe zu steigern.
Ein gutes Beispiel sei der Gehörlosenverband Kärnten (Österreich), der als Partner an der Strategischen Partnerschaft beteiligt ist. Dort habe es früher so gut wie keine Angebote im Sinne der Erwachsenenbildung gegeben. Durch das Erasmus-Projekt habe sich vieles bewegt, die Lernmotivation sei hoch. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil der Ausbruch von Corona kurz nach dem Start des Projekts die Zusammenarbeit nicht gerade erleichtert hat. Sowohl Exner als auch Sailer sind beeindruckt, wie der Austausch trotzdem gelaufen ist. Denn obwohl der persönliche Kontakt und das kulturelle Erleben vor Ort nicht möglich waren, habe man „neue Türen aufgestoßen“.
Projektarbeit in Zeiten von Corona
Prinzipiell stünden gehörlose Menschen in der COVID 19-Pandemie vor besonderen Herausforderungen, weiß Rudi Sailer. Die Hauptprobleme sieht er in der Verfügbarkeit aktueller Informationen sowie im Umgang mit der Mund-Nasen-Bedeckung. Auch beim Thema Impfen seien längst nicht alle Infos barrierefrei angeboten worden. Der Mund-Nasen-Schutz hingegen erschwere Gehörlosen die Kommunikation, da Mimik und Mundgestik als wichtiger Bestandteil der Gebärdensprache nur noch eingeschränkt wahrnehmbar seien.
Ganz besonders treffe dies Senior*innen, die sich mit den Möglichkeiten der modernen Kommunikation nicht auskennen. „Wie sollen die mit einer derartigen Situation klarkommen?“, fragt Sailer. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat das Netzwerk gemeinsam mit der Sozialorganisation Aktion Mensch eine Initiative gestartet, die gehörlose Senior*innen in der Coronakrise unterstützt und Ihnen kommunikative Brücken baut.
Was das Erasmus+-Projekt angeht, wollen Sailer und Exner in den nächsten Monaten weitere Erwachsenenbildner hinzugewinnen und ausbilden. So sollen mehr und bessere Angebote entstehen und die Menschen in der aktuellen Entwicklung „mitgenommen“ werden. Abschließend fordert Rudi Sailer: „Wir wollen Gebärdensprache in allen Bildungskontexten stärken und den Gehörlosen in allen Lebenslagen qualifizierte Angebote unterbreiten.“